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„Was, wenn plötzlich ein fremdes Kind in meinem Zimmer stünde?“

Flucht und Migration prägen die gesellschaftliche Debatte in Deutschland seit Jahrzehnten – mitunter emotional, oft hitzig und nicht selten spaltend. Die Frage nach dem Umgang mit Migration berührt grundlegende Werte und fordert uns sowohl ganz persönlich als auch als Gesellschaft heraus, Position zu beziehen.

Auch Kinder im Grundschulalter können das, wenn sie sich mit unterschiedlichen Perspektiven auseinandersetzen. Im Ethik-Unterricht des 2. Jahrgangs beschäftigen sich die Schülerinnen und Schüler behutsam damit. Schnelle Antworten lassen sich nicht finden auf die Fragen: Warum verlassen Menschen ihre Heimat? Was bedeutet es, irgendwo fremd zu sein? Und was heißt es, ein neues Zuhause zu finden – oder zu gewähren?

Die Ursachen von Migration ziehen sich dabei durch die gesamte Unterrichtseinheit: Krieg, Hunger, politische Verfolgung, Umweltkatastrophen. Aber auch: Hoffnung auf Sicherheit, Bildung, ein besseres Leben. Niemand flieht leichtfertig.

Der Einstieg erfolgte über das eindrucksvolle Bilderbuch „Punkte. Wir sind viele“ von Giancarlo Macri und Carolina Zanotti, das ohne konkrete Personen auskommt. Schwarze und weiße Punkte symbolisieren Gruppen – und damit Zugehörigkeit und Fremdheit. Die schwarz ausgefüllten Punkte leben in Wohlstand – und müssen erst einmal ein „Parlament“ bilden und diskutieren, ob sie die bedürftigen Weißen auf ihre Seite kommen lassen.

In der kindgerechten Darstellung spiegeln sich zentrale Argumente, wie sie auch in der gesellschaftlichen Debatte zu hören sind: Sorgen vor Überforderung, Angst vor dem Unbekannten – aber auch Solidarität, Hilfsbereitschaft und die Erkenntnis, dass Vielfalt auch als Chance gesehen werden kann.

Durch dieses abstrakte Setting wurde es möglich, über Migration zu sprechen, ohne reale Einzelschicksale zu thematisieren. Die Kinder mussten nicht über konkrete Fluchterfahrungen urteilen, sondern konnten sich auf das Argumentieren konzentrieren.

Im Anschluss lernten die Kinder, wie eine Pro- und Contra-Diskussion funktioniert. Mithilfe zufällig verteilter grüner und roter Karten wurden sie dazu angeregt, auch einmal eine Position zu vertreten, die nicht ihrer eigenen Meinung entsprach. Dabei erfuhren sie, wie schwer es sein kann, gegen die eigene Überzeugung zu argumentieren – und wie bereichernd es ist, wenn man sich in andere Denkweisen einfühlt.

Diese Form der argumentativen Rollenübernahme diente der Schulung von Perspektivwechsel, Empathie und der Fähigkeit, Positionen sachlich zu vertreten – unabhängig von der eigenen Meinung. In einer simulierten Talkshow diskutierten die Kinder nicht nur abwechselnd, sondern entwickelten ihre Aussagen im direkten Bezug zueinander weiter.

Ein Gedankenexperiment rückte die Debatte näher an die eigene Lebenswirklichkeit: Ein Kind, das du nicht kennst, steht plötzlich in deinem Zimmer. Es hat nichts. Keine Familie, kein Zuhause, kein Spielzeug. Was tust du? Die Antworten reichten von spontaner Hilfsbereitschaft bis zu klaren Abwehrreaktionen. Warum fällt es schwer, zu teilen? Was gehört mir – und was könnten wir gemeinsam nutzen?

Eine Geschichte über eine Königin, die alles an sich reißt – Palast, Gärten, sogar den Himmel – stellte Besitzansprüche infrage. Kann man den Himmel besitzen? Wem gehört die Welt? Und wie viel braucht eigentlich ein Mensch? Diese absurde Zuspitzung regte eine Diskussion über Eigentum, Macht und Grenzen individueller Ansprüche an.

Besondere Eindrücke hinterließ das Bilderbuch „Flucht“ von Issa Watanabe. Es erzählt ohne Worte von einer Gruppe Tiere, die ihre Heimat verlassen müssen – verfolgt vom Tod, geschwächt und doch hoffnungsvoll. Die Kinder reagierten nachdenklich, mitfühlend – und mit vielen Fragen. Gerade weil es in dem Buch keine Sprache gibt, bleibt Raum für eigene Deutungen.

In höheren Jahrgängen werden im Ethikunterricht an unserer Schule konkrete Fluchtgeschichten in den Blick genommen, zum Beispiel anhand des Kinderbuches „Bestimmt wird alles gut“ von Kirsten Boie, Erzählungen beim Besuch des Lern- und Gedenkortes Synagoge oder anhand der Auseinandersetzung mit Biografien von Menschen aus unserer Region, die in dem Projekt We-re-member dargestellt sind.

Ziel des Unterrichts ist es nicht, normative Antworten zu liefern, sondern Reflexionsfähigkeit zu fördern. Im Zentrum standen das begründete Äußern eigener Sichtweisen und das Anerkennen anderer Positionen. Wo sich dem Eindruck nach ein Meinungskorridor verengt und die Gesellschaft polarisiert scheint, ist es von Bedeutung, dass Kinder lernen, differenziert zu denken und sprachfähig zu bleiben – auch über sensible Themen wie Migration.

Unser Ethikunterricht versteht sich dabei als Ort der dialogischen Auseinandersetzung. Der Vorteil: In der Lerngruppe treffen Kinder mit unterschiedlichen biografischen Hintergründen – aus Deutschland, Syrien, der Ukraine, Indien und weiteren Ländern – aufeinander, die aus persönlichen Erlebnissen und den Erfahrungen in ihren Familien dezidiert unterschiedliche Standpunkte einbringen.

Der Ethikunterricht schafft den Raum, darüber im Gespräch zu bleiben, fremde Perspektiven kennenzulernen, sie zu verstehen und sie kritisch zu hinterfragen.

Text: G. Beyer, Fotos und Illustrationen: 360 Grad-Verlag, G. Beyer, Hanser-Verlag, D. Vetsikas/Pixabay